Wie kommunizieren Kunstwerke?

 

Theorien geben Gründe an – für das, was ist, was war und was sein soll. Sie machen ein Phänomen dem Verstehen zugänglich und bringen es auf den Begriff. Dabei ist es nicht damit getan, nur das eine oder andere Zutreffende darüber auszusagen. An eine Theorie richtet sich vielmehr der Anspruch, genau solche Strukturen zu benennen, die einen Phänomenbereich wesentlich ausmachen und ihn von anderen abgrenzen. Das bedeutet: Ihre Begriffe müssen kennzeichnen, worauf sie sich beziehen und eine trennscharfe Bestimmung ihres Gegenstandes geben. Doch nicht alles, was sich benennen läßt, ist gleichermaßen ein geeigneter Gegenstand theoretischer Beschäftigung. Es gibt Phänomene, die sich im theoretischen Zugriff verflüchtigen und sich ihm zu entziehen scheinen: Gefühle, Empfindungen und subjektive Überzeugungen verlieren ihre spezifische Qualität, wenn sie in objektiven Begriffen „erklärt“ werden. Und auch die Kunst läuft Gefahr, von einer ihr beigestellten Theorie „entmündigt“1 zu werden: Manche „Ästhetik“ würdigt Kunstwerke zu erbaulicher Freizeitbeschäftigung herab und übereignet sie dem Konsum. Andere Theorien betrachten die Kunst wiederum als ein Materialfeld, das erst dann zu „sprechen“ beginnt, wenn der Betrachter über das „richtige“ theoretische Hintergrundwissen verfügt. Ihrer Grundstruktur nach begreifen solche Theorien ein Kunstwerk als Repräsentation von Ideen, als Fall eines Allgemeinen, als Ausdruck von Gedanken und beschreiben es mit allgemeinen klassifizierenden Begriffen. Die Vorlage stellt dann etwas Bestimmtes dar – etwa eine Landschaft, ein Haus, ein Kleidungsstück. Mit Hilfe der jeweiligen Theorie – etwa der Kunstgeschichte, der Soziologie, der Psychoanalyse – lassen sich solche Bestimmungen als Sprungbrett zu zahlreichen Assoziationen und Interpretationen nutzen und in komplexe Erklärungszusammenhänge eingliedern 2. Zwar kann man in diesem Rahmen durchaus auch die Form der Darstellung – also wie bestimmte Inhalte in einem Medium präsentiert werden – thematisieren, doch nur insofern sie klassifizierbar und etwa als ikonisch, metaphorisch oder symbolisch zu beschreiben ist. Angesichts dieser kognitiven Akzentuierung avanciert also nur, was als Re-präsentation eines bereits verfügbaren Bedeutungsrepertoires zu begreifen ist, zum Gegenstand theoretischer Beschäftigung. So regen unter dieser Perspektive Kunstwerke zwar durchaus zu einer Kommunikation über Kunst an, doch genügt eine begriffliche Beschreibung der jeweiligen Arbeit oder eine pointierte Formulierung ihrer formalen Darstellungsidee, um an dieser Kommunikation teilzunehmen. Nach erfolgreicher Übersetzung ist die anschauliche Präsenz eines Kunstwerkes gar nicht mehr erforderlich, um kompetent über Kunst sprechen zu können: Das Kunstwerk ist zum „Begriff“ geworden und kann als solcher in beliebigen Sinnhorizonten bearbeitet und interpretiert werden. So scheint die Kunst aus sich heraus einer Bedeutung gar nicht fähig zu sein, sondern dazu einer theoretischen Transformation in die Sprache zu bedürfen. Eine Theorie der Kunst kann es dann gar nicht geben, sondern nur Theorien, die sich jeweils aus ihrer eigenen Perspektive mit Kunst befassen und über Kunst kommunizieren. Solche Kommunikationen sagen jedoch mehr über die Voraussetzungen der jeweiligen Theorien aus, als über Gegenstand, den sie zu thematisieren versuchen – über das Kunstwerk und die Kunst.

Um diesen selbst in den Blick zu bekommen, müßte man die Ausgangsfrage anders formulieren. Nicht: „Wie kommunizieren bestimmte Theorien jeweils über Kunst?“, sondern: „Wie kommuniziert die Kunst selbst?“ – eine Frage, die sich zwar nicht ohne Theorie, aber doch nicht im Rahmen einer bestimmten Theorie des eben skizzierten Typs beantworten läßt. Diese Problemlage verweist auf eine Besonderheit der Philosophie. Denn ihre reflexive Struktur entfaltet sich jenseits bereits verfügbarer Inhalte und bewirkt, daß man, worüber auch immer man nachdenkt, gleichzeitig etwas über den Gegenstand des Nachdenkens und das Denken selbst lernt, so daß das philosophische Denken sowohl die Strukturen seiner Gegenstände enthüllt, als auch seine eigenen Strukturen sichtbar werden läßt.3 So könnte man mit Danto sagen: „Das Wesen der Philosophie ist derart, daß sie logisch mit allem verbunden ist, von dem sie handeln kann.“4Eine philosophische Untersuchung dessen, was ein Kunstwerk ausmacht, thematisiert die Frage „Wie kommuniziert die Kunst selbst?“ daher im Rahmen einer Reflexion auf die Bedingungen solcher Kommunikation. Sie versucht damit zu begreifen, was ein Kunstwerk ausmacht, ohne es in einer Interpretation „von innen auszuhöhlen“.5

Jede Kommunikation enthält eine Codierung, die ihrer Strukturierung dient. Sie sorgt dafür, daß sich diese Kommunikation nach spezifischen Maßgaben vollzieht und führt zu einer ersten Festlegung dessen, was ihr Gegenstand sein kann. In der Kommunikation der Kunst geht es um das Zeichen selbst. Über das Dargestellte hinaus ist die Darstellung des Dargestellten der Gegenstand der Kommunikation. Und so könnte man zunächst sagen: Die Kunst kommuniziert durch Kunstwerke. Ihre Zeichen eröffnen eine Welt, die weder ein Abbild des Gegebenen ist, noch bloße Bebilderung von Gedanken, sondern eine Welt der Präzision6, die, so formulierte es einmal Duchamp, „in derselben geordneten Weise konzipiert ist, wie die gewöhnliche“ – nur daß in ihr eine „neue Kausalität“7 wirkt, welche die Gesetzlichkeiten der sogenannten realen Welt „ein wenig ausdehnt“. Diese Zeichen bestimmen ihre Bedeutung selbst – dabei wirken die Strukturen der Darstellung – kein gleichsam „von außen“ zugeführtes Bedeutungsrepertoire – auf einen Sinn hin. So kommunizieren Zeichen der Kunst gleichsam als „programmierte Wahrnehmungen“8, deren Intellektualität sich am Ort der Darstellung entfaltet. Dies erfordert eine aktive Betrachtung, eine Art „hellwacher Reflexion“9, in der sich die „Bildrationalität“ dem Betrachter schrittweise erschließt. Zeichen der Kunst sind insofern singuläre, autonome Zeichen als für sie ein Bedeutungsrepertoire erst erfunden werden muß.

Unter diesen Voraussetzungen kehrt sich in der Kommunikation der Kunst das gewöhnliche, für den repräsentativen sprachlichen Zeichenbezug charakteristische Verhältnis von intellektuellem Gehalt und Darstellung um: Die Kommunikation der Kunst nimmt ihren Ausgang von dem Zeichen selbst. Diesem wird nach den ihm eigenen, internen Strukturen, also aus sich heraus und insofern in einem selbstreferentiellen Prozeß eine Bedeutung generiert. Die Ermöglichung dieses Prozesses ist eine Herausforderung. So formuliert etwa Braque die Aufgabe künstlerischer Arbeit: „In der künstlerischen Produktion geht es darum, eine Bildwirklichkeit zu schaffen“10, ähnlich auch Mondrian, der das Zeichen der Kunst als „eine neue Realität in den Grenzen der bildnerischen Mittel“ begreift 11. Doch diese programmatische Bestimmung der Kunst formuliert weniger eine Beschreibung als vielmehr einen Anspruch an das Zeichen der Kunst. Sie fordert Darstellungsstrukturen zu gestalten, zu erfinden oder zu präsentieren, die ihre Bedeutung selbstreferentiell entwickeln. Umgekehrt verlangt sie vom Betrachter, Kunstwerke als in dieser Weise autonome Darstellungen zu betrachten und sie in ihrer spezifischen Qualität zu würdigen.

Eine individuelle Darstellung, ein singuläres Zeichen ist eine Gegebenheit allein im Präsentationsmodus der Anschauung. Nur als sinnliche Präsenz in Raum und Zeit kommt das Zeichen selbst in Blick. Nur als Wahrgenommenes werden seine individuellen Strukturen, die jeweiligen Kompositionen oder wie im Falle der Malerei: die jeweiligen Farben und Formen für den Prozeß der Bedeutungsfindung überhaupt verfügbar. Die individuellen Strukturen einer Darstellung können dann als Gesetze der Bedeutungsbildung gewonnen werden und dieses als „selbstprogrammierte12 in ein Zeichen verwandeln, das bedeutungsvoll ist. Diese Bedeutungsgenerierung ist kein unmittelbarer Prozeß, kein passives Aufnehmen, kein sich Hingeben an die Darstellung und auch kein „Auf-sich-wirken-lassen“. Sie ist vielmehr eine Art reflexive Konstruktion, eine Beobachtung, die zugleich Beobachtung der Beobachtung ist: In der aufmerksamen Betrachtung der Vorlage, im sich vernetzenden Beziehen gesehener Elemente, beobachtet der Betrachter zugleich den Akt der Rezeption. Dazu muß von der gegenständlichen Deutung, von der begrifflichen und daher allgemeinen Bestimmung der Vorlage abstrahiert werden. Denn für die Kommunikation der Kunst ist es nicht konstitutiv, was eine Vorlage jeweils darstellt – ob sie eine< Landschaft, ein Kleidungsstück oder ein Haus „ist“, sondern diese Landschaft, dieses Kleidungsstück, dieses Haus als Dargestellte. Es gibt unzählige Darstellungen von Landschaften, Kleidungsstücken und Häusern, die keine Zeichen der Kunst sind, und die nicht mehr bedeuten als den gedanklichen Gehalt, auf den sie verweisen. Das Zeichen selbst ist in diesem repräsentationalen Zusammenhang irrelevant, denn es ist streng genommen gar nicht sichtbar.

Die Kommunikation der Kunst bezieht sich auf das Zeichen selbst. So werden in der Betrachtung zunächst die bildnerischen Mittel in Bezug gesetzt, werden Farben und Formen aufeinander bezogen. Dabei entstehen qualitative, ästhetische Werte, die nur in dieser relationalen Verhältnissetzung für einen Betrachter „real“ sind. So wirkt etwa eine dunkle rote Fläche im Verhältnis zu einem dunklen Grund anders als im Verhältnis zu einem hellen Grund. Sie erhält einen anderen ästhetischen Wert. Oder eine Linie eröffnet, wird sie im Verhältnis zu einer anderen gesehen, eine räumliche Deutung. Sieht man dieselbe Linie dagegen als Begrenzung einer Fläche, verliert sich diese zugunsten der zweidimensionalen „Lesart“. Solche ästhetischen qualitativen Werte können selbst wiederum in Bezug gesetzt werden und dadurch eine neue Qualität erhalten. Im Prozeß der Betrachtung eröffnen sich so unendliche Bezugsmöglichkeiten, die jeweils verschiedene qualitative Werte entstehen lassen. Diese können sprachliche Artikulationen finden, wenn sich zwischen den Strukturen der Beobachtung eine Analogie zu Strukturen der Beobachtung von Erfahrungsgegenständen herstellen lassen. So kann etwa eine Linie die Rezeption in einen bestimmten Verlauf zwingen, der sich analog als Bewegung, Geschwindigkeit oder Dynamik begreifen läßt. Bestimmte Farbabstufungen, Wiederholungen oder Unterbrechungen lassen sich als Rhythmisierung beschreiben, Flächen erscheinen als Gewicht oder als Raum, je nach dem in welchem Verhältnis sie zu anderen stehen. Solche Analogien müssen aber von dem Betrachter selbst hergestellt werden. Sie lassen sich weder plan von der Vorlage ablesen, noch sind sie im strengen Sinne allgemein. Vielmehr ergeben sich mögliche Begriffsanwendungen im Wechselspiel von ästhetischen Werten und allgemeinen Strukturen der Erfahrung. Daher meinen solche Konzeptualisierungen auch keinen Gegenstand der Wirklichkeit und beschreiben keine faktische Eigenschaft einer Vorlage. Sie beziehen sich auf unser Sehen dieser Form und die jeweiligen sinnlichen Konstruktionen, die sich darin herstellen lassen. Das bedeutet: Sie haben auch nur im Kontext solcher reflektierter Wahrnehmung eine Bedeutung und bringen zugleich die Beobachtung der Beobachtung zur Erscheinung. Im Wechselspiel ästhetischer Qualitäten und analogisch angewendeter Strukturbildungen baut sich darin eine ästhetische Form auf, so daß man sagen kann: Das Verstehen von Zeichen der Kunst ist eigentlich ein Konstruieren.

Die sprachliche Kommunikation über Kunst bezieht sich, wenn sie die Kommunikationsfähigkeit künstlerischer Zeichen ernst nimmt, auf unser Konstruieren ihrer Bedeutungsmöglichkeiten. Und diese ästhetischen Konstruktionen gründen sich nicht auf mathematische, formulierbare Gesetze, sondern gewinnen diese aus den sinnlichen Strukturen der Darstellung selbst. Damit führen sie dem Betrachter zugleich vor, wie sehr wir uns in unserem alltäglichen Weltverhältnis von identifizierendem Denken bestimmen lassen, wie sehr wir uns der Wahrnehmungsverarbeitung verschrieben haben und wie wenig wir dabei von der Welt „sehen“. So sind wir im erkennenden Zugriff immer schon über das Sehen hinaus, während wir im bloß rezeptiven Aufnehmen ästhetischer Reize lediglich Wirkungen genießen. Die Besonderheit künstlerischer Zeichen zeigt sich dagegen in einem Programm jenseits dieser Reduktionen: Sie liegt darin, ein Zeichen zu entwerfen, dessen Bedeutung beides ist: Farbe und Form für das Auge, „Text“ für das Verstehen. Im reflektierten Betrachten soll beides sich ergänzen und eine „Vermählung“ von geistigen und visuellen Elementen hervorrufen. Dieses Programm formuliert einen Anspruch. Es verlangt von Zeichen der Kunst, mehr zu sein als „In-Scene-Setzer irgendwelcher Erinnerungen oder Theorie“13. Es fordert, die Form um ihrer selbst willen zu lieben, nicht um das, was sie ausdrückt14, und sie so zu präparieren, daß sie „allgemeine Mitteilbarkeit“, – so nannte Kant die Kommunikation der Kunst – erlangt und selbst ihren Sinn bestimmt. Natürlich lassen sich auch hier sprachliche Kommunikationen anschließen, doch beziehen sich diese dann auf die ästhetischen Konstruktionen selbst, statt gelehrte Bildbeschreibungen zu präsentieren. Sie haben daher vorrangig hinweisenden Charakter und leiten den Blick. Insofern ermöglichen sie es, einen anderen zu derselben ästhetischen Konstruktion anzuregen und stellen so eine „Allgemeinheit in der Sinnlichkeit“ her. Diese aber ist, das wird den Kommunizierenden dabei deutlich, ohne Reflexion nicht zu haben. Sie muß vielmehr erarbeitet werden.

Eine Theorie der Kunst kann es nur insofern geben, als solche Strukturbedingungen allgemeiner Mitteilbarkeit aufgedeckt und in Begriffe gefaßt werden können. Diese haben den Status von Ermöglichungsbedingungen und legen von daher weder bestimmte Formen und Inhalte, noch einen Regelkanon fest. Ihre Aufgabe muß vielmehr darin bestehen, einen Ort der Unverfügbarkeit namhaft zu machen, an dem sich solche Zeichen konstruieren lassen. An dem sich beides – Auge und ‘graue Substanz’, Darstellung und Idee – in eine anschauliche Einheit fügen kann.

 

Andrea Esser, München

1 A. Danto, Die philosophische Entmündigung der Kunst, München 1993.

2 Erwin Panofsky, Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1978, S. 36 ff.

3 Arthur Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt am Main 1991

4 Ebd. 91

5 Vgl. J.-F. Lyotard, Streifzüge, 1989, 71 f.

6 Vgl. + Stauffer, Interviews, 78.

7 Vgl. Stauffer, Interviews 79.

8 Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, FfM 1996, 21 f.

9 Vgl. Arnold Gehlen, Zeitbilder, FfM 1960.

10 Walter Hess: Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei. Hamburg 1993, S. 90.

11 Walter Hess: a.a.O. S. 159.

12 Vgl. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, FfM 1996, S. 21 f.

13 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Schriften, Kritische Studienausgabe (KSA) 12, 7 [7], S. 286.

14 „Keiner ist einfach Maler; alle sind Archäologen, Psychologen, Sie lieben eine Form nicht um das, was sie ist, sondern um das, was sie ausdrückt. Sie sind die Söhne einer gelehrten, gequälten und reflektirten Generation – Tausend Meilen weit von den alten Meistern, welche nicht lasen, und nur dran dachten, ihren Augen ein Fest zu geben.“, Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Schriften, Kritische Studienausgabe (KSA) 12, 7 [7], S. 286.)