Malerei ist immer abstrakt oder: Ich beobachte mich beim Sehen
Rolf Poellet im Gespräch mit Bernhart Schwenk
Gehen wir von Deiner Serie von Köpfen aus, die in Aufbau und Ausdruck zunächst ganz simpel und fast schematisch scheinen. Was, denkst Du, ist bei dieser Malerei das für Dich Kennzeichnende?
In meiner Malerei geht es eigentlich immer um ein bestimmtes Verhältnis von Figur und dem sie
Umgebenden Raum – in dem Sinn, dass ich versuche, eine Figur vom gemalten Hintergrund abzulösen. Den Dingen, die ich male, ob das ein Kopf oder ein Vogel ist oder Gegenstände auf einem Tisch, soll eine eigenständige Position im Raum zugewiesen werde. Im Idealfall kann ich die Position so anlegen, dass sie auch unverbunden, quasi schwebend gesetzt, zu einer schlüssigen Gesamtform des Bildes führt. Wichtig ist mir das freie bewegen eines Motivs im Bildraum.
Die Köpfe – Arbeiten, die Du ohne Titel gelassen hast, sind 2001 entstanden, angefangen zu malen, hast Du aber schon früher. Welches ist das Werk, dem Du in Deinem zukünftigen Werkverzeichnis die Nummer 1 geben wirst?
Es gibt tatsächlich solch ein Bild, genauer gesagt: eine Reihe von Arbeiten. Es sind Papierarbeiten, die
1999 entstanden sind. Sie zeigen das erste Mal den Abstraktionsgrad, der seither meine Malerei bestimmt. Bei den Arbeiten handelt es sich um Krankenhaus – Interieurs mit Waschbecken, Leichenbahren, Türen und so weiter.
Was genau ist Dir an diesen Arbeiten so wichtig?
Die Arbeiten sind für mich wichtig, weil ich mit ihnen erstmals eine Sprache gefunden habe, die mir näher und selbstverständlicher war als die Sprachen, die ich bis dahin ausprobiert hatte. Ich reduzierte die Sprache so weit, bis das Ding, das ich malen wollte, ein Zeichen in der Form eines Pinselstriches war. Ich konnte mich ab diesem Zeitpunkt malerisch ausdrücken. Ich konnte so Formen auch schnell formulieren.
Du sprichst von „Abstraktionsgrad“. Würdest Du Deine Bilder denn als abstrakt bezeichnen?
Ich mache keine Unterscheidung zwischen gegenständlicher oder abstrakter Malerei. Malerei ist immer abstrakt. Auch meine Arbeiten sind grundsätzlich abstrakt.
Und was ist mit den Bildern, die doch eindeutig das Gegenständliche zeigen?
Bilder tun nur so, als würden sie etwas zeigen, was aussieht wie zum Beispiel ein Kopf. Das gleiche Zeichen, anders verwendet, lassen etwas entstehen, was aussieht wie eine Schildkröte oder was weiß ich. Grundsätzlich sind Bilder immer abstrakt.
Was hat es mit den Wiederholungen, dem seriellen Arbeiten auf sich, was das Motiv nicht selten zum Ornament macht?
Mein Interesse am Ornament ist wohl eng verbunden mit meiner Neigung, immer das gleich malen zu wollen, ohne es nur abzumalen, mit dem Wunsch nach dem erneuten Erzeugen aus der Anschauung heraus. Das fand in der Entenserie seinen Gipfel. Ich habe neunzig Entenbilder gemalt und habe dabei nur einen nach jeweils dreißig Arbeiten wechselnden Hintergrund als Parameter zugelassen. So sind dreimal dreißig Bilder entstanden. Im Grunde ist die Ente ein Ornament, das nicht ornamental verwendet wird. Es wird malerisch, also auf den Bildraum bezogen verwendet. Die Wandarbeit in der Himmelfahrtskirche München Sendling macht dies deutlicher: hier werden erfundene Zeichen als Serien so auf die Wand gesetzt, dass die Wand sich als Raum öffnet. Im Grunde handelt es um Malerei mit annähernd gleich aussehenden Zeichen. Mit jeder Wiederholung versuche ich ein Stück weiter in die Gegenwart zu kommen, oder um es mit Deleuze zu sagen: “Das Geschäft des Lebens besteht darin, alle Wiederholungen in einem Raum koexistieren zu lassen, in dem sich die Differenz verteilt“. Dadurch drückt sich auch eine Form des Zweifels aus, der in meiner Malerei immer spürbar bleiben muss.
Was ist unter diesem notwendigen Zweifel genau zu verstehen?
Es geht hier um den Zweifel am Gesehenen. Die Frage: Lassen sich die gewählten Zeichen noch schlüssiger zur Form zusammenfügen, um das gesehene zu erfassen?
In einer bestimmten Werkphase war das Thema Mode für Dich wichtig. Wie bist Du dazu gekommen und was hat Dich speziell daran gereizt?
Es gibt bei mir ein ganz grundsätzliches Interesse an Mode. Mich interessiert die Form der Kleidungsstücke und was diese mit der Gegenwart zu tun hat. Klar ist mir heute aber auch, dass die Beschäftigung mit Mode in meiner Malerei ein Umweg zur Figur war. Ich habe zuerst leere Kleidungsstücke gemalt. Dann, erhebliche Zeit später, die Köpfe ohne Körper. Dann vergingen noch einmal etwa zwei Jahre, und ich malte eine ganze Figur. Gesichter haben die bis heute noch nicht.
Ging es dabei um die Auseinandersetzung mit bestimmten Kleidungsstücken, vielleicht auch von bestimmten Designern?
Bewusst nicht, doch rückblickend gesehen gibt es Schwerpunkte. Was mich an der Mode nachhaltig gereizt hat, ist eben die immer gleich Frage nach der Form. Als Maler such ich nach Darstellungsmöglichkeiten, die ich für gegenwartstauglich halte. Die Geschichte der Malerei bietet einiges, aber eben nicht viel was mit unserer Gegenwart zu tun hat, und es geht mit um die Abbildung von Gegenwart. Darstellungsweisen, die von der Hülle ausgehen, haben mich nicht lange überzeugt. Heute arbeite ich die Form einer Figur von innen nach außen. Bei den „Bikini Babes“ zum Beispiel ist das so gemacht. Was die Modedesigner angeht, finde ich die am interessantesten, bei denen immer eine starke, integrative Größe zwischen der Geschichte und der Gegenwart zu erkennen ist. Also die, die zum Beispiel eine Anzugform vor der Vielfalt der Geschichte wieder neu erfinden, ohne dabei nur an der Oberfläche zu applizieren. Es geht um die Form.
Ist das Thema Mode jetzt für Dich abgeschlossen?
Nein, ich arbeite zyklisch. Abhängig von meiner Entwicklung greife ich Themen immer wieder auf.
Viele Deiner Bilder scheinen auf eine Farbigkeit im Sinne von Buntheit bewusst zu verzichten, eher neigt Deine Palette zu verblassen, müden Tönen, manchmal artikulierst Du Dich in Schwarz – Weiß – Valeurs. Welche Rolle spielt Farbe für Dich?
Ich verwende niemals Schwarz und Weiß, es sind Grautöne! Farbe verwende ich streng nach Notwendigkeit: um die Form aufzubauen und um brauchbare Differenzen zu erzeugen. Dabei geht es ausschließlich darum, welche Position im Raum der mit einer bestimmten Farbe gemalte Pinselstrich einnimmt. Es ist ein sehr sensibles System, bei dem feine Unterschiede für mich ausreichend sind, um räumliche Differenzen zu sehen. Was das Thema und die verwendete Palette angeht, sehe ich nur die Konstante, dass ich seit Jahren mit einer scheinbar schmalen Palette arbeite, die mit feinen Differenzen funktioniert und jeweils den aktuell benötigten Farbton aus den Grundfarben mischt. Das mache ich immer so. Ich arbeite mit zwei Grundfarben – Paletten, um die Möglichkeiten zu erweitern.
Was bedeutet für Dich der Bildträger Leinwand, nach welchen Kriterien suchst Du die Formate aus?
Formate suche ich nach Seitenverhältnissen aus. Das Format hat ganz grundsätzliche Bedeutung. Die Entscheidung, welches Format ich für eine bestimmte Arbeitsreihe wähle, ist eng verbunden mit der Form, um die es geht. Zum Beispiel die Darstellung einer sitzenden Frau. Hier ist das Format siebzig mal sechzig Zentimeter. Wie bei vielen Figurendarstellungen. Die Aneignung des Formats geschieht erst im Arbeitsprozess. Den Raum, den ein bestimmtes Format ermöglicht, muss ich in Schritten aufbauen. Wichtig ist dabei die Kohärenz des Raumes bezogen auf die Grenzen des Formats. Das Format entspricht, vereinfacht ausgedrückt, so etwas wie einem Wahrnehmungsäquivalent, das es aufzubauen gilt, denn Räume sind nur subjektiv wahrzunehmen.
Wie kam es dazu, dass Du im dreidimensionalen Raum gearbeitet hast?
Es war einfach der Reiz, ein Bild auf fünfzig oder achtzig Quadratmetern zu malen. Das ist eine völlig neue Erfahrung. Du stehst auf dem Gerüst und beginnst die ersten zwei Tage zögerlich. Die Arbeit zu entwickeln. Nach einer Woche ist es verinnerlicht, und du arbeitest wie eine Maschine die acht Meter hohen Wände ab. Enorm anstrengend, aber bleibend.
Welche Erfahrungen hast Du daraus gezogen? Welchen Unterschied macht es für Dich, eine Wandmalerei oder eine Leinwand zu machen?
Die Erfahrungen, die ich jedes Mal daraus nehme, sind sehr ähnlich: Meine Malweise der ständigen Behauptung bringt es mit sich, dass ich für ein Ding, etwa eine Augenbraue, nur ein Zeichen verwenden will. Einmal gemalt, soll sie zum Umfeld eindeutigen Bezug haben. Diese scheinbare Überforderung verlangt nach einer Haltung, die völlig absichtslos neben dem Aufbau der Form steht, um den es ja geht. Diese Haltung immer wieder beziehen zu müssen, ist die Erfahrung die ich suche. Das macht keine strukturellen Unterschied, was meine Sichtweise der zu bemalenden Fläche angeht, aber von den Dimensionen her macht das natürlich einen ganz wesentlichen Unterschied. Ich versuche immer, die Wand als Raum zu sehen, in dem ich mich dann bewege. Malend bewege ich mich über die Wand und versuche, eindeutige Bezüge herzustellen, bis sich die Wand öffnet.
Was bedeutet der Kontext internationaler zeitgenössischer Malerei für Dich?
Darüber muss ich länger nachdenken. Ich glaube nicht viel, jedenfalls für meine unmittelbare Arbeit. Im Kontext sehe ich mich derzeit nur bedingt. Wenn ich mir die nahezu völlige Dominanz (besonders in den USA) der bereits ins Bild eingearbeiteten kunstgeschichtlichen Deutungsmuster ansehe, dann ist mein Interesse daran sehr begrenzt. Das geht mir mit den Leuten aus der so genannten Leipziger Schule genauso. Ich sehe internationale Positionen meist nur auf Messen. Kenne dann eine oder zwei Arbeiten. Sehe dabei wenig Positionen, wo es um malerische Probleme geht und nicht um Probleme der Kunstgeschichte.
Wie positionierst Du Dich in der Malerei der letzten zehn Jahre?
Als Randerscheinung. Mit dem an Dominanz verlierenden, malerisch unreflektierten Fotorealismus konnte ich nie was anfangen. Mit dunklen Wäldern und romantischen Zitaten, deren Gültigkeit als solche nach der Romantik abgelaufen war, auch nicht. Die Leute Totenköpfen und Hakenkreuzen aus Berlin finde ich sympathisch, obwohl mir die Verwendung der Symbole malerisch unmotiviert vorkommt.
Welche klassisch modernen Maler sind für Deine Arbeit wichtig gewesen?
Klar sind Cezanne und Manet wichtig. Cezanne sicher wichtiger. Auch Maler wie Guston oder zunehmend wieder Baselitz sind wichtig. Entscheidenden Einfluss hatte natürlich Giacometti, besonders als Zeichner, und auch Hockney als Zeichner.
Und welche Vormodernen Maler magst Du besonders?
Immer noch wichtig ist Velasquez. Er ist einer der wenigen Maler, die sich mit kleiner, aber behauptender Geste mit einer bis heute erstaunlichen Sicherheit im Bildraum bewegen konnten. Er konnte Differenzen zum Aufbau seiner Formen so bemessen, dass der Bildraum eine erstaunliche Kohärenz erhielt. Da Vinci schätze ich wegen seiner Zeichnungen. Bei Raffael sind es die Kompositionen. Bei „La Fornarina“ geht die Faszination des Bildes nur von der Position der Sitzenden im Raum aus. Und wenn man die Arbeit von Giotto gesehen hat, hat man tatsächlich ein Bild davon, was Malerei leisten kann. Ich verstehe mein Tun als Weltausschnitt, der nach den Gesetzen der Malerei erstellt ist. Das bedeutet, dass ich für die Betrachtung eines Bildes auch einen dafür brauchbaren Blick entwickeln muss. Dieser muss in der Lage sein, das Bild als Gesamtes zu sehen, ohne sich an einer bestimmten Bildstelle festzusetzen. Alle Zeichen sollen gleichwertig gesehen werden. Das ist die pure Anschauung, der berühmte malerische Blick, den Cezanne, Hockney und all die anderen beschworen haben und beschwören.
Wie nahe sind sich das gewählte Motiv und die Art der Malerei? Wie unabhängig ist die malerische Sprache vom Inhalt?
Mich interessiert das Spannungsverhältnis von dem auf der Leinwand tatsächlich Sichtbaren und dem daraus abzuleitenden Inhalt. Die Richtung der Interpretation kann nur die sein, dass der Inhalt formale Gründe braucht. Ich halte wenig von allzu schnell sprudelnden Assoziationen, denen die formale Grundlage fehlt. Mir geht es tatsächlich um das Funktionieren meiner malerischen Sprache. Wie das zu interpretieren ist, kann sich meines Erachtens nur auf das „System Poellet“ beziehen. Bei den Frauen im Bikini geht es um Sexualität. Das weiß ich aber erst seit kurzem. Die Bilder habe ich vor zwei Jahren gemalt. Die Art der Darstellung von Sexualität hat nur in meiner Welt bedeutende Gründe. Sie kann auch als Reaktion auf die Sexualisierung der Gesellschaft gesehen werden, war von mir aber so nicht bewusst beabsichtigt.
Wie steht es um den Zusammenhang zwischen dem (subjektiv erlebten) Realraum und dem ästhetischen Bildraum?
Dieser Raum zwischen uns und den Gegenständen ist Thema des Bildes. Im Grunde ist Malerei der Versuch, diesen subjektiv erlebten Raum ins Bild zu bringen. Dieser Raum entsteht dann am schlüssigsten, wenn das dargestellte Motiv auch tatsächlich Gründe in mir hat.
Wie verhält sich das Selbstbewusstsein dazu?
Wenn die Anschauung Sehen zweiter Ordnung ist – ich beobachte mich beim Sehen – , dann ist damit die Selbsterkenntnis beziehungsweise das Selbstbewusstsein verbunden. Das heißt, man beobachtet sich selbst dabei, wie man die sichtbare Welt wahrnimmt. Der subjektive Raum bildet sich über das Selbstbewusstsein aus. Je mehr ich über mich weiß, desto homogener wird dieser Raum.
Welche Bedeutung hat die aktuelle Literatur und Theater für Deine Arbeit?
Was mich zur Zeit interessiert, ist Literatur wie sie von Houellebecq kommt. Ich lese das, und der unmittelbare Zugriff auf die Worte schafft die Nähe zum Geschehenen. Die Reflexion von Houellebecq über das, was er schreibt, steht so weit im Hintergrund, dass man sie nicht spürt. Aber sie ist da. Im Theater ist es auch die verwendete Form. Schaue ich Kriegenburg an, erlebe ich zwei Momente: einmal die abstrakte theatrale Sprache, und dann das Zusammenziehen dieser Sprache zum konkreten Ausdruck, ohne den Grundrhythmus seiner Grammatik zu verlassen.
Woher kommt der Anstoß für Deine Arbeiten?
Ich kenne die Gründe dafür meist nicht. Erst nach Jahren verstehe ich in einem weiteren Zusammenhang und mit dem Abstand die Auswahl. Das wird auch so bleiben. Im Grunde stelle ich Fragen. Würde ich wissen, was ich tue, wäre das wie die vorweggenommene Antwort.
Das Gespräch beruht auf einer Korrespondenz via Email im November und Dezember 2005.